Wasser, Wälder, Berge, Wolken – wer spürt diese Sehnsucht nach Natur heutzutage nicht? Auf der ganzen Welt zieht es uns Menschen hinaus in die Landschaft, sei es um ein Abenteuer zu erleben oder für einen gemütlichen Spaziergang. Ein Phänomen, das es bereits seit Jahrhunderten gibt. In der europäischen Kunst rückt die Natur insbesondere in der Zeit der Romantik in den Mittelpunkt – man denke an den Schweizer Hochgebirgsmaler Caspar Wolf, den deutschen Künstler Caspar David Friedrich oder den englischen Maler William Turner.

Das Museum Rietberg rückt in seiner neuen Ausstellung «Sehnsucht Natur – Sprechende Landschaften in der Kunst Chinas» die Landschaftsmalerei Chinas in den Vordergrund und spricht so einerseits ein Thema an, in das wir uns leicht vertiefen können, andererseits dürfte vielen von uns die traditionelle Darstellung der chinesischen Landschaften vermutlich fremd sein – im Gegensatz zu entsprechenden europäischen Abbildungen. So entdecken wir neue Sichtweisen und vielleicht sogar neue Emotionen. Begleitet wird die Ausstellung von Zitaten wie diesem hier:

Wer könnte damit zufrieden sein, zu Hause zwischen den frostigen Ranken zu verweilen. Bei der blossen Erwähnung von Bergbesteigungen, gerate ich in Verzückung. Es zieht mich dahin, wo die Gipfel sich bis zum Himmel erstrecken. Und die Wellen des Meeres die Sonne umspülen, die sich den Bergspitzen zuwendet. (Shen Zhou, 1427–1509, Zitat aus der Ausstellung)

Querschnitt durch die chinesische Landschaftskunst

Klassisch und modern, so offenbart sich uns die neue Ausstellung im Museum Rietberg. Die ausgestellten Werke bieten in ihrer Gesamtheit eine gute Übersicht über die chinesische Kunstgeschichte. Wir lernen die «alten Meister» genauso kennen wie zeitgenössische Installations- und Videokünstler. Oftmals stehen sich in der Ausstellung traditionelle und moderne Werke gegenüber und eröffnen dadurch einen Dialog. Als wie wichtig erachten die modernen Künstler die traditionelle chinesische Landschaftsmalerei? Dient sie heute noch als Vorbild oder möchten sich diese bewusst abgrenzen, um Neues zu erschaffen? Durch die Zitate und die Bildbeschreibungen werden dem Besucher einerseits die Verbindungen, andererseits Brüche und Konflikte zwischen Tradition und Moderne aufgezeigt.

Malen, ohne den alten Meistern zu folgen, ist wie in der Nacht ohne Kerze unterwegs zu sein. Es ist unmöglich, den Weg zu finden. (Wang Yuanqi, 1642–1715, Zitat aus der Ausstellung)

Waren es früher Verfolgung und Machtkämpfe beispielsweise bei einem Herrscherwechsel, die Gelehrte und Künstler aufs Land zog, sind es heute Phänomene wie Burn-out und Umweltverschmutzung. Doch sind es dieselben Träume und Sehnsüchte, dieselben Emotionen und Fragen, die hervorgerufen und mit uns Besuchern durch die Bilder geteilt werden (…so habe auch ich mich ein paarmal beim Seufzen ertappt 😉 ). Die Werke erzählen uns von gesellschaftlichem, künstlerischem oder persönlichem Wandel und von Sehnsüchten und Botschaften, die wir vielfach sehr gut nachvollziehen können.

Die Ausstellung ist in mehrere Abschnitte unterteilt, so beispielsweise «Die Landschaft als Zufluchtsort», «Malerei als Dichtung» oder «Das Altertum als Vorbild», auf die ich nun eingehen möchte.

Duale Kräfte. Das Universum im steten Wandel

«Berge» und «Wasser» sind die zwei Grundkomponenten der chinesischen Landschaftsmalerei. Sie repräsentieren die zwei dualen Kräfte, die alle Prozesse im Universum lenken und verweisen auf die Wortpaare «Yin» und «Yang». Diese Komponenten illustrieren die kosmischen Kräfte, die Unsterblichkeit und die Vorstellung von einem Universum im steten Wandel – alles verändert sich und ist in Bewegung. Mit dieser Auffassung werden wir als Besucher im ersten Raum konfrontiert. Scheinbare Gegensätze wie Stille und Bewegung sowie Licht und Dunkel treffen in den gezeigten Werken aufeinander. Wolken, Berge, Wälder und Wasser verschmelzen und wir gewinnen optisch den Eindruck von einem lebendigen Wesen. Die menschlichen Wesen dazwischen bilden eine harmonische Einheit mit der Natur. Und genau dies ist das Ziel der chinesischen Landschaftsmalerei – und unserer Sehnsüchte.

Im nächsten Raum geht es unter anderem um das Thema Selbstfindung mit Hilfe der Natur und deren positive Wirkung auf unseren Körper und unseren Geist. Passend hierzu finden wir ein Bild zum Thema «Tree Hugging»; ein Phänomen, das in Europa in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. In China ist jedoch das so genannte «Waldbaden» schon seit Jahrzehnten eine bewährte Praxis und in Japan bezahlt es die Krankenkasse seit 1982.

Ferner erkennen wir, dass Berge eine unglaublich wichtige Rolle spielen – insbesondere aufgrund der Vorstellung, dass Berge heilige Orte sind, denn dort leben unsterbliche Wesen und Gottheiten. Diese unsterblichen Geistwesen verkörpern das ewige Leben und das ewige Glück und deshalb nehmen sie in der chinesischen Literatur und Malerei einen wichtigen Platz ein. Das Paradies und die Berge sind somit eng miteinander verknüpft. Doch wie erkennt man Paradies-Welten in der chinesischen Malerei? Vor allem durch Wolken (glücksverheissende Wolken), meist kombiniert mit der Benutzung der Farben Blau und Grün in einem Bild.

Die Landschaft als Zufluchtsort – die Gelehrtenmalerei

Im nächsten Raum wird das Thema der Landschaft als Zufluchts- und Sehnsuchtsort thematisiert. Hier werden keine realen Landschaften gezeigt, sondern imaginäre Gegenden. Es sind Sehnsuchtsorte für Gelehrte und Intellektuelle – die Konsumenten und gleichzeitig die Produzenten dieses Genres, das auch Gelehrtenmalerei genannt wird. Sie sind die Hauptprotagonisten und wir sehen als Betrachter die Welt durch ihre Augen. Als Hauptmotiv dient in den Bildern eine bescheidene Strohhütte. Diese befindet sich weit weg von der realen Welt und weit weg von den alltäglichen Problemen. Es ist der Sehnsuchtsort par excellence. Hier lebt man ein perfektes Leben – bescheiden und in Einklang mit der Natur. Und hier findet man Seelenfrieden und Geistesruhe.

Früher hat man oft zu solchen Darstellungen zurückgefunden, wenn die Welt durch Krieg und Unruhen in Aufruhr war. Heutzutage entdeckt man die Darstellungen beispielsweise aufgrund eines Burn-outs wieder. Viele Künstler beschreiben das Gefühl als eine «universelle Sehnsucht des Menschen nach einer heilen Welt in Einklang mit der Natur». In China steht das Motiv für eine uralte Tradition, welche sich auf den «Einsiedler» bezieht. Dieser verkörpert «moralische Integrität» und ein «selbstbestimmtes Leben». Er lebt quasi das «Wunschleben» – ein Leben fernab von beruflichen Verpflichtungen und gesellschaftlichen Zwängen.

Das Thema der Entfremdung spielt vor allem im 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Zur Zeit des Bürgerkrieges wird die Kaiserdynastie gestürzt und viele Intellektuelle fliehen ins Exil. Zu dieser Zeit enthalten viele Bilder versteckte Botschaften. So steht beispielsweise die Farbe Rot für die alte chinesische Kaiserfamilie. Fallende Blätter symbolisieren den dynastischen Niedergang. Dem Kiefer-Baum kommt eine tragende Rolle zu. Er ist der König aller Bäume und steht einerseits für den perfekten Menschen und andererseits als Kraft-Symbol in widrigen Zeiten, denn den immergrünen Baum kann nichts erschüttern.

Dichtung und Malerei

In vielen chinesischen Landschaftsdarstellungen findet man Aufschriften auf Bildern. Dabei handelt es sich meist um Gedichte. Die Dichtkunst und die Malerei ergänzen sich auf dieser Ebene wunderbar. So erfährt man in den Gedichten Vieles, was in den Bildern nicht sichtbar wird, beispielsweise lernt man die Gefühle des abgebildeten Protogonisten kennen oder kann sich das Rauschen des Wassers vorstellen. So entsteht eine Bereicherung des Seherlebnisses.

Das dröhnende Rauschen der Quelle drang in mein Ohr und ergoss sich in mein Herz, inmitten einer weiten, kühlen Einsamkeit. Es durchspülte und reinigte meine Brust, wusch allen Staub von mir ab, und es wurde mir so frei und weit ums Herz, dass ich meiner selbst vergass und mir Tod und Leben zu einer Einheit verschmolzen. Denn wahrhaftig: je lauter die Quelle rauschte, desto ruhiger ward mein Geist. (Yuan Zhongdao, 1570-1623, Zitat aus der Ausstellung)

Dieses Zitat passt auch wunderbar zum nächsten Raum, den «Wasserfallraum» wie ihn die Kuratorin benannt hat. Denn das Element Wasser bildet seit über 2000 Jahren ein wichtiges Thema in der chinesischen Dichtung und Malerei. Ein Wasserfall dient uns Menschen als Kraft-Ort, auch in Europa. Es ist ein Ort an dem der Körper und der Geist gereinigt werden. In China bringt das Rauschen des Wasserfalls kosmische Klänge hervor. Diese Klänge können nur über eine Zither wiedergegeben werden. In der Ausstellung werden die beiden Klänge vereint, was wirklich unglaublich entspannend ist.

Reiselust: Darstellung berühmter Berge und wunderbarer Orte

Nicht erst heute, sondern bereits im 16. Jahrhundert entstand in China ein erster Reisetourismus. Das Reisen war jedoch nur der gebildeten Oberschicht zugänglich. Diese unternimmt so genannte Kulturreisen, das heisst, es werden Orte besucht, an denen andere Gelehrte und historische Persönlichkeiten bereits gewirkt haben.

Das Reisefieber von damals widerspiegelt sich in der chinesischen Malerei. Doch das Reisen kann durchaus auch imaginär stattfinden und so kann die Betrachtung eines Bildes eine reale Reise ersetzen. Bilder von realen Orten erleben in dieser Epoche eine Blütezeit. Ergänzt wiederum von Gedichten, können die Bilder intensiver von zu Hause aus erlebt werden. Dass die Künstler ihre Bilder oftmals zu Hause noch ergänzten und ihrem Einfallsreichtum freien Lauf liessen, spielte dabei keine grosse Rolle.

Traditionen: Das Altertum als Vorbild

Die meisten chinesischen Maler aus der gelehrten Oberschicht legten grossen Wert auf Traditionen. Dieser Trend hält bis heute an. Alte Meister werden verehrt und es wird immer wieder auf sie Bezug genommen. In China wird das «Malen im Stil der alten Meister» nicht als Mangel an Originalität angesehen, sondern dient als Qualitätsmerkmal. Aber es gab sie auch, die Individualisten, die aus dem Hamsterrad ausbrechen und eigene Stile entwickeln wollten. Einer von ihnen war Shitao:

Ich bin ich; ich lebe. Ich kann weder mein Gesicht mit den Bärten der alten Meister bekleben, noch kann ich ihre Eingeweide in meinen Leib tun. Ich habe meine eigenen Eingeweide, meine eigene Brust, und ich ziehe es vor, an meinem eigenen Bart zu zupfen […] Warum sollte ich mir die Alten zum Vorbild nehmen und nicht mein eigenes Selbst entfalten? (Shitao, 1642-1707, Zitat aus der Ausstellung).

Die Ausstellung endet mit einem Werk von Yang Yongliang – ein Gegenwartskünstler, der in seinen Arbeiten die klassische chinesische Landschaftsmalerei neu interpretiert. Hier trifft Alt auf Neu und es entsteht wie zu Beginn der Ausstellung ein Dialog, den wir als Besucher im Geiste erweitern können.

Wahres Wissen entsteht nicht aus der Wiederverwertung der Vergangenheit, sondern aus dem Lernen vom Alten und dem Erkennen des Neuen (Huang Binhong, 1865-1955, Zitat aus der Ausstellung).

Adresse: Museum Rietberg, Gablerstrasse 15, 8002 Zürich
Öffnungszeiten: Dienstag – Sonntag 10 – 17Uhr, Mittwoch 10 – 20Uhr, Montag geschlossen

Dieses Video zeigt eine kurze Einführung zur Ausstellung durch die beiden Kuratorinnen Alexandra von Przychowski und Kim Karlsson:

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Siehe dir auch meinen Beitrag zum Bild «Helvetia» (Die Freiheit) von Arnold Böcklin an.

Bilderquelle: Eigene Aufnahmen, Museum Rietberg Zürich, Copyright siehe Website und Bildunterschriften.