Giorgio Vasari – Architekt, Hofmaler und Schriftsteller – wird bekannt durch seine Künstlerbiografien, den so genannten Viten. Darin beschreibt er in sechs Teilen das Leben und Wirken der bedeutendsten italienischen Künstler seiner Zeit mit Fokus auf die Regionen Toskana und Umbrien. Besonders wertvoll sind diese Beschreibungen, da sie auch über Werke berichten, die verloren gegangen sind. Er gilt als einer der ersten Kunsthistoriker und führt neue Stilbezeichnungen ein, darunter die heute vorgestellten Begriffe Grazia und Bellezza.

Heute wird es also etwas theoretisch und wir tauchen tief in die beiden kunsthistorischen Begriffe ein. Bist du dabei? Na dann, los geht’s! 🙂

Definition der beiden Begriffe Grazia und Bellezza

Grazia wird im Deutschen übersetzt mit Grazie oder Anmut. Verwandte Begriffe sind die künstlerische Freiheit, die Erfindung, die Lässigkeit, der Liebreiz, die Perfektion und die Schönheit.
Bellezza wird im Deutschen hauptsächlich mit Schönheit übersetzt. Verwandte Begriffe sind die Anmut, der Liebreiz und die Perfektion.

Giorgio Vasari und die Begriffe Grazia und Bellezza

Bei Giorgio Vasari ist Grazia als naturgegeben zu verstehen und kann deshalb nicht von einem Individuum erworben werden. Wenn man die Eigenschaft jedoch besitzt, kann sie sich in jeder menschlichen Tätigkeit zeigen, also nicht nur in der Kunst. Sie kommt zum Ausdruck durch eine gewisse Lässigkeit in einer Person. Bei einem Künstler zeigt sie sich zusätzlich als Erfindungskraft und künstlerische Freiheit. Alles, was diejenige Person, die Grazia besitzt, tut oder sagt scheint deshalb ohne Mühe zustande zu kommen. Im Gegensatz zur Eleganz ist sie als eine natürliche und unverfälschte Gabe zu verstehen.

Die Begriffe Grazia und Bellezza sind eng miteinander verwandt. Unter dem Einfluss des Florentiner Neuplatonismus im 15. Jahrhundert werden die Begriffe Grazia und Bellezza mit einer positiven, ins Göttliche reichenden Konnotation belegt. Von Platon wird Grazia als Tochter des Eros aufgeführt. Cicero schreibt ihr eine Sanftheit der Stimme, Leichtigkeit und Lieblichkeit zu. Dies kommt der Vorstellung von Giorgio Vasari sehr nahe. Zusätzlich wichtig für das Verständnis ist aber auch die Ansicht von Plinius dem Älteren, der mit Grazia die Verbergung der Schwierigkeit im ausgeführten Kunstwerk meint (siehe hierzu meinen Artikel über Raffael). Im 16. Jahrhundert kommen die Begriffe der Vorstellung von Perfektion sehr nahe.

Körperliche Schönheit vs. Schönheit der Seele

Giorgio Vasari verwendet die beiden Begriffe in seinen Viten vergleichbar mit Benedetto Varchis Auffassung. Dieser unterscheidet in seinem Buch „Libro della beltà e della grazia“ von 1543 eine körperliche Schönheit – auch als Bellezza corporale bezeichnet – und eine Schönheit der Seele – auch als Bellezza spirituale bezeichnet. Die Bellezza corporale wird als eine physische Qualität interpretiert, die Bellezza spirituale dagegen als Eigenschaft beziehungsweise Tugend der Seele. Die Bellezza spirituale ist dem Begriff der Grazia gleichzusetzen.

Varchi deutet diese als eine individuelle und naturgegebene Tugend. Vasari verwendet dabei oft die drei Begriffe Anmut, Schönheit und Tugend in seinen Viten zusammen. Derjenige, der diese geistige Schönheit besitzt, kann diese Gabe sogar auf andere übertragen. Die Grazia ist somit ganz im neuplatonischen Sinne der Auslöser für Liebe, wobei die Liebe wiederum der Ausgangspunkt für das Streben nach Wissen und einer moralischen Vollkommenheit ist.

Bellezza hingegen kommt durch die Erscheinung einer Person zum Ausdruck. Beide Begriffe zusammen, also die körperliche und die seelische Schönheit, werden zu Zeiten von Giorgio Vasari als voneinander abhängige Wesenszüge angesehen. Grazia steht somit für die inneren Werte und Bellezza für die Äusseren. Man geht davon aus, dass die innere Anmut durch die äussere Schönheit sichtbar wird, so wie man äusserliche Schönheit als Zeichen für innere Güte deutet.

Anwendung der beiden Eigenschaften in der Kunst

Bei den Künstlern drückt sich diese Schönheit zum Beispiel durch eine Harmonie der Proportionen aus. Dieses Ideal bezieht sich besonders oft auf den weiblichen Körper. Beispielsweise soll das weibliche Lächeln nicht nur Schönheit und Anmut, sondern auch Bescheidenheit ausdrücken. Nur so kann gemäss Giorgio Vasari die Figur lebendig und natürlich erscheinen. Man kann hier auch von Weichheit ohne scharfe Konturen der Figuren sprechen.

Dieses Konzept wird später auch umgekehrt angewendet. So verbreitete sich die Vorstellung, dass ein Künstler selbst eine innere und äussere Schönheit besitzen müsse, um schöne Werke erschaffen zu können. Giorgio Vasari betont deshalb beispielsweise bei der Vita von Raffael nicht nur die äussere und innere Schönheit des Künstlers, sondern auch dessen Fähigkeit, seinen Werken Schönheit und Grazie zu verleihen.

‚Maniera moderna’ und die Vollkommenheit

Der Begriff Grazia ist zudem eng mit Giorgio Vasaris Definition der ‚maniera moderna’ (der moderne Stil der ‚reifen‘ Renaissance) verbunden. Die Anmut ist dabei verknüpft mit der Vorstellung von einer die Natur übertreffenden Perfektion. Diese setzt gleichzeitig eine gewisse Schnelligkeit (Prontezza) voraus, mit welcher der Künstler seine Werke erschafft. Für Giorgio Vasari erlangen nur die Vertreter ab der dritten Periode seiner Viten diese Perfektion (z.B. Michelangelo, Raffael, Tizian).

Diese Aussage möchte ich mit einem Zitat, welches sich auf die Grazia der Künstler aus der dritten Periode bezieht, abschliessend erklären:

„Erst der künstlerische Freiraum durch die Loslösung von obligaten Regeln und die Möglichkeit, der eigenen Phantasie Form und Gestalt zu geben, erfüllt die Werke eines Künstlers mit Anmut und lässt sie deshalb vollkommen erscheinen.“ (Lorini, Burioni, Feser 2004, S. 188)

Nun liegt es an dir die Begriffe in Kunstwerken zu erkennen und anzuwenden – stimmst du mit Giorgio Vasari überein? Schau doch mal im Kunsthistorischen Museum in Wien rein, dort kannst du es 1:1 beurteilen mit der Madonna im Grünen von Raffael. Viel Spass.

Literatur

  • Gründler, Hana/Lorini, Victoria: Giorgio Vasari. Das Leben des Raffael, Berlin 2004.
  • Henning, Andreas: Raffaels Transfiguration und der Wettstreit um die Farbe. Koloritgeschichtliche  
    Untersuchung zur römischen Hochrenaissance, München 2004.
  • Lorini, Victoria/Burioni, Matteo/Feser Sabine: Giorgio Vasari. Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, Berlin 2004.
  • Merklin, Harald: Cicero. De oratore. Über den Redner. Lateinisch / deutsch, Stuttgart: 1976 (Auszug aus de oratore II, 83ff.).